Wer ist die Person, die uns die Fragen beantwortet? Bitte stellen Sie sich kurz vor…
„Ich heiße Eva Kaiser, ich leite seit mehr als 20 Jahren die Kriseneinrichtung Papatya und seit ihrer Gründung auch die Online-Beratung SIBEL. Ich bin von Beruf Erziehungswissenschaftlerin.“
Mit den bei Perspektiven für Frauen gesammelten Spendengeldern unterstützt RAJA konkret das Projekt SIBEL. Schildern Sie uns das Projekt genauer?
„SIBEL ist unsere Beratungsstelle, die überwiegend online über email-Kontakt berät. Sie richtet sich gezielt an Mädchen und junge Frauen, die einen Migrationshintergrund und Probleme mit ihrer Familie haben. Meist handelt es dabei um Gewalt im Zusammenhang mit traditionellen Ehrvorstellungen der Eltern, um geplante und bereits erfolgte Zwangsverheiratung oder auch die Angst, im Herkunftsland der Eltern ohne Pass zurück gelassen zu werden, um die Tochter gefügig zu machen.
Der Vorteil der Online-Beratung ist, dass sich Ratsuchende von überall her an uns wenden können, selbst im kleinsten Ort im In-und Ausland ist der Kontakt über Computer oder Smartphone möglich, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit, wann es für die Betroffene gerade günstig und sicher ist. Auch unsere Antworten können heimlich dann gelesen werden, wenn niemand aufpasst. Das ist für Mädchen, die unter dauernder Kontrolle von Eltern oder Brüdern stehen, besonders wichtig.
Oft besteht der Kontakt zu SIBEL (das ist übrigens ein türkischer Mädchenname, den wir bewusst gewählt haben, um Mädchen türkischer, kurdischer oder arabischer Herkunft zu ermutigen, sich an uns zu wenden) über einen längeren Zeitraum. Gerade wenn es darum geht, im Vorfeld der Entscheidung, aus der Familie zu flüchten, die verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen oder wenn Wege zur Rückkehr aus dem Ausland gefunden werden sollen, braucht es häufige und längerfristige Beratungskontakte.
Wir beraten jährlich ca. 400 Mädchen und junge Frauen, die meisten im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Vereinzelt fragen auch junge Männer bei uns an, entweder weil sie Rat für ihre Freundin suchen, oder weil sie selbst unter Gewalt im Namen der Ehre leiden. Auch professionelle Helfer, wie LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, JuristInnen oder ÄrztInnen usw. holen sich bei uns Rat.“
Wir verstehen die Wichtigkeit von anonymer Beratung über das Internet. Aber was, wenn Sie und die hilfesuchende Person erkennen, dass weitere Hilfe nötig ist? Wie funktioniert der „Übergang“ von anonymer Hilfe zu persönlichem Kontakt?
„Über unsere Online-Beratung SIBEL können die Mädchen und jungen Frauen den ersten Kontakt, auf Wunsch auch anonym, herstellen. Wenn nötig, können wir im Laufe der Beratung auch zum telefonischen oder persönlichen Gespräch übergehen, bei akutem Schutzbedarf ist auch die Aufnahme in unserer Kriseneinrichtung Papatya möglich.“
Erzählen Sie uns etwas über die Entstehung von papatya: Wer war an der Gründung beteiligt, was war die Motivation für die Gründung?
„Papatya feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Jubiläum, seit 1986 gibt es schon die geheime Schutzeinrichtung. Die Online-Beratung SIBEL haben wir vor 10 Jahren eingerichtet (vorher war das Internet ja noch nicht so verbreitet).
Papatya wurde vom Türkisch-Deutschen Frauenverein e.V. gegründet, weil Mädchen vor allem türkischer und kurdischer Herkunft sich beim Berliner Jugendnotdienst meldeten, die zu Hause geschlagen und eingesperrt wurden. Weil die Familien dieser Mädchen auf der sofortigen Rückkehr ihrer Tochter bestanden, ohne die bestehenden Probleme zur Kenntnis zu nehmen, diese Mädchen aber Angst hatten zu Hause noch mehr Schläge zu bekommen, wurde Papatya als geheime Schutzwohnung gegründet, wo die Mädchen zur Ruhe kommen, ohne Angst sprechen und über ihre weiteren Zukunftspläne mithilfe pädagogischer Betreuerinnen nachdenken konnten. Der Berliner Senat hat die Kriseneinrichtung Papatya von Anfang an unterstützt, wenn auch über die Jahre die finanzielle Zuwendung nicht mehr ausreichte, um die Kosten zu decken.“
Sie helfen oft auch in extremen Situationen. Die Arbeit ist belastend. Was muss ein Mitarbeiter für die Arbeit bei papatya „mitbringen“?
„Wir sind ein reines Frauenteam. Wir beschäftigen 10 Mitarbeiterinnen, viele auf Teilzeit, die sowohl die Betreuung der Mädchen bei Papatya wie auch die Online-Beratung SIBEL übernehmen. Alle haben eine pädagogische Ausbildung (Erzieherinnen, Sozialpädagoginnen, Erziehungswissenschaftlerinnen und eine Psychologin), außerdem sind wir multikulturell besetzt mit türkischen, kurdischen und deutschen Mitarbeiterinnen. Wir werden öfters angefragt, ob wir ehrenamtliche Mitarbeiterinnen beschäftigen, aber das lehnen wir ab, weil die Arbeit tatsächlich sehr belastend ist und das nur mit der Unterstützung eines Teams zu bewältigen ist. Wir haben auch in regelmäßigen Abständen die Unterstützung einer Supervisorin, um mit besonders schwierigen Situationen besser umgehen zu können.
Wir erwarten von allen Mitarbeiterinnen und auch von Praktikantinnen, die bei uns arbeiten, dass sie die Emanzipationsbemühungen der Mädchen und jungen Frauen, die sich an uns wenden, unterstützen. Wir verstehen uns nicht als Mittler zwischen Mädchen und ihren Eltern, sondern als parteilich und als Anwältinnen für die Betroffenen.“
Können Sie uns den Lebensweg einer am Projekt beteiligten Person beschreiben, der Sie besonders berührt hat?
„Ich berichte ja immer lieber über die Erfolgsgeschichten von Mädchen, die sich aus der Gewalt der Familie befreit haben und heute junge selbstbewusste Frauen sind, die mitten im Leben stehen, und uns voller Stolz ihr Abiturzeugnis, den Ausbildungsabschluss oder auch das frischgeborene Baby vorzeigen.
Aber besonders berührt hat mich im letzten Jahr eine sehr traurige Geschichte:
Die 20jährige Syrerin Rokstan meldete sich im April 2015 bei uns, weil sie die ständigen Schläge und Beleidigungen zu Hause nicht mehr aushielt. Sie lebte seit 2 Jahren mit ihrer Familie in Deutschland und galt eigentlich als Vorbild für Integration. Sie hatte innerhalb kürzester Zeit so gut deutsch gelernt, dass sie für andere Flüchtlinge übersetzen konnte und ihnen beim Start in Deutschland helfen wollte. Doch ihr Zuhause war für sie die Hölle auf Erden, denn seit sie in Syrien vergewaltigt worden war, galt sie in den Augen ihrer Familie als Schlampe, Dreck und nichts wert. Ihre Mutter wünschte ihr den Tod, weil sie durch die Vergewaltigung keine Jungfrau mehr war und dadurch die Familienehre beschmutzt hatte.
Nach 3 Wochen in unserer Zufluchtswohnung Papatya beschloss sie gegen unseren Rat, zu einem Verwandten zu ziehen, der ihr Schutz versprach. Danach hatten wir keinen Kontakt mehr zu ihr. Im Oktober 2015 erfuhren wir von ihrem Tod, vermutlich hat sie ihr eigener Vater, der seitdem untergetaucht ist, im Namen der sogenannten „Ehre“ ermordet.
Ihr Tod spornt uns an, die Schutzangebote für Mädchen und junge Frauen ständig weiter zu verbessern. Nie wieder soll ein Mädchen oder eine junge Frau für die „Familienehre“ sterben müssen!“